Meine Arbeit beschäftigt sich mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Vergessen und dem Erinnern … 

Hinter den Linien verbergen sich schemenhafte Figuren. Sie stehen für Erinnerungen aus der Kindheit, die verblassen und Lücken aufweisen, aber immer ein Teil von uns sind. 

Der schnelle Strich des Schwammes oder des Pinsels erzeugt Linien in einer transluzenten Struktur. Sie verdecken aber lassen auch – ganz unvorhersehbar – Lücken entstehen. Die Schichtung der Linien bringt Bewegung, Dynamik und Spannung zum Ausdruck. Sie scheinen an einen flüchtigen Moment des Erinnerns anknüpfen zu wollen.

Linien sind für mich Botschafter der Ordnung, Struktur und Sicherheit. Dabei sind sie aber nicht genau, sondern brüchig und unterschiedlich. Diese Ungenauigkeit ist für mich von großem Wert, nichts ist starr, alles ist in Bewegung und in einem dynamischen Prozess. 

[ Anja Mamero ]

Die Sprache der Linie bei Anja Mamero besitzt einen ambivalenten Charakter. Sie erzählt von der Interdependenz der Bedürfnisse Mamero’s, die sich zwischen den Polen Ordnung, Dynamik und Ausbruch bewegen. Die Gradlinigkeit eines Striches steht dabei sinnbildlich für Ordnung und drückt das starke Verlangen von Mamero aus, dem Chaos in ihrem Wesen, den Verletzungen und Gedanken einem Raum zu geben. 

Die Linien, gezogen in einer rhythmischen Regelmäßigkeit, einer Meditation gleich, provozieren diesen Gedanken. Durch das Eindringen in die Farbe befragt Mamero die Linie hinsichtlich ihrer unvorhersehbaren materiellen und formalen Konstitution. Auch der Hintergrund wird bestimmt vom Moment der Unvorhersehbarkeit und erinnert dabei an das Gefühl des Ausbrechens. In der Auseinandersetzung der Linien mit der Autonomie des Hintergrundes spiegelt sich die Ambivalenz der Arbeit Mamero`s wider. 

Die zahlreichen Schichten von Farbe erzeugen dabei eine Körperhaftigkeit, denn sie weisen den Weg in die Tiefe. Mal legt die Linie tiefliegende Farbschichten frei, indem sie mit einem Messer in die Farbe gekratzt wird. Einige Linien werden durchkreuzt oder tauchen in den Hintergrund ein. Dagegen sind andere Linien überdeckend und präsentieren sich selbstbewusst im Kontrast zum Hintergrund. Vorder- und Hintergrund bedingen sich so gegenseitig.

Obwohl die Linie in ihrer Konstitution stark variiert, bleibt sie in ihrem Charakter stets autonom und findet ihren Weg. Als zentrales Element bestimmt sie den Prozess und ist Träger für die Bewegungen, die der Ordnung und Sicherheit zum einen und dem Ausbruch und der Verletzung zum anderen immer wieder neuen Raum geben. Dieser dynamisierende Moment des Auseinandersetzens zwingt Mamero, sich selbst mit aller Körperlichkeit und Freiheit dem Großformat entgegen zu stellen. Mamero stellt also nicht nur die Frage nach der Konstitution der Linie, sondern befragt ebenso den Zwischenraum zwischen Strich, Farbschicht, Bildträger und Individuum. 

[Paula Oltmann]