Eröffnungsrede „Anja Mamero: tracing lines“

Solo-Show im Bunker D, 7. November 2024

„Tracing Lines“: Der Titel der Ausstellung spricht bereits wesentliche Aspekte an, die mir bei meiner Beschäftigung mit den Arbeiten von Anja Mamero eingefallen sind. Im Kern steht dabei die Doppeldeutigkeit, die der Titel in sich trägt. Zum einen meine ich einen aktiven Part; den Teil, in dem die Aktion beim individuellen Subjekt also, den Personen, die die Bilder anschauen liegt: diejenigen, die mit ihrem Blick die Linien verfolgen. Zum anderen ist es der eher passive Aspekt, der wiederum von den Gemälden und den Linien ausgeht: verfolgende Linien.

Die Linie, bzw. der Strich, ist der erste Weg, in dem eine gemalte oder gezeichnete Darstellung ihren Weg auf das Papier, die Leinwand oder sonst einen Untergrund findet. Hierbei ist mir ein Bezug zur kunsthistorischen Theorie in den Sinn gekommen. Im Fokus steht dabei die Linie als in der Zeichnung festgehaltenen Spur. Das klassische und in der Allgemeinheit wohl auch immer noch verbreitete Künstler*innenbild suggeriert immer noch die Präsenz des Skizzenblocks. Die Skizze und Zeichnung dient hierbei als erste Ebene, auf der sich die Idee der Künstler*in manifestiert, visuell festgehalten wird und ihre Form findet. Zurückzuführen ist dieser Topos nicht zuletzt auf den großen Kunsttheoretiker der Renaissance, Giorgio Vasari. Ich meine hiermit theoretische Traktate der sogenannten Disegno-Theorien des 15. und 16. Jahrhunderts, in denen die Zeichnung als Ursprung und „Vater“ aller Künste verhandelt wurde. Diese dienten nicht nur dazu, um die Künste aus dem handwerklichen Bereich zu lösen, sondern bekanntermaßen entstammt dies auch einer Zeit, in der ein Gemälde noch als Fenster zur Welt verstanden wurde, wie etwa bei Leon Battista Alberti, also einer Kunstauffassung, die den Künstler in die Nähe des Genies führt und die Genialität seiner künstlerischen Haltung unterstreicht. Die Zeichnung und Linie dienten hierbei als Grundlage. Und einiges an diesem Gedanken hat sich mit Sicherheit bis in die heutige Zeit weitergetragen.

Bei dem Nachdenken über die Linie kommt man schnell auf ihre Abgrenzung vom Strich. Die Linie ist auch bei Anja Mamero definiert durch ihre akkurate Ausführung wohingegen der Strich – meist schnell gezogen – das gestische und körperliche in den Vordergrund rückt. Diese kleinen Unterschiede sollten Sie unbedingt im Hinterkopf behalten, wenn Sie sich auf die Betrachtung der Arbeiten von Anja Mamero einlassen.

Die älteste Arbeit hier in der Ausstellung ist aus dem Jahr 2020. Eine Arbeit, die Bestandteil des Masterabschlusses von Anja Mamero an der Muthesius Kunsthochschule war. Bereits der Titel der Arbeit „between the lines“ greift zwei wesentliche Elemente auf, die dabei helfen, sich dem Inneren der Werke von Anja Mamero zu nähern: Die Linie und die Fläche, bzw. der Raum zwischen den Linien. Zentral ist ihr Verständnis und ihr Gedanke zur Linie. Die Linie wird von ihr als die Ebene verstanden, in der die Künstlerin sich in das Kunstwerk einschreibt, als die Schnittstelle zwischen dem Material und dem Künstlerinnensubjekt. Anja Mamero selbst hat es in dem schriftlichen Teil ihrer Master-Thesis damals folgendermaßen formuliert:

„In dieser Phase des Erschaffens der Linie ist es von Bedeutung, dass die geführte und intuitiv gesetzte Linie immer ein Teil des Künstlers selbst ist. Auch die Künstlerin ist offen für Neues.“

Das Setzen und Aufbringen der Linie ist folglich der Moment, in dem die Kommunikation zwischen Künstlerin und Kunstwerk sich ausbildet und manifestiert. Jeder Versuch, die Linie akkurat und gleich zu setzen muss scheitern und kommt zu dem Schluss, dass jede Linie, trotz ihrer seriellen Anmutung in dem Gemälde eine ganz eigene Spur darstellt, festgehalten in Öl auf Leinwand. Durch ihre Präsenz lenken die Linien gleichsam unseren Blick und unser Augenmerk auf die Fläche und den Bildraum zwischen Ihnen.

Eine zweite Gruppe von Arbeiten in der Ausstellung spielt ebenfalls mit dem Verhältnis von Bildraum, Bildfläche und perspektivischer Bildtiefe. Elementar ist hierbei das Raster. Wenn ich eingangs auf die kunsthistorische Tradition der Linie verwiesen habe, so gilt für das Raster ähnliches. Leon Battista Alberti, der das Gemälde als Fenster zur Welt verstanden hat, konnte dies nur machen, indem das Raster – im endgültigen Gemälde nicht mehr sichtbar – als zugrundeliegende Hilfskonstruktion perspektivische Darstellungen ermöglichte. Jahrhunderte später, in Folge der klassischen Moderne, wurde das Raster in der Kunstgeschichte und Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts selbst zum Bildgegenstand und zur Grundlage theoretischer Reflexionen. Das Raster wurde hierbei immer wieder herangezogen, um das Verhältnis von realistischer und abstrakter Malerei auszuloten und deren Verhältnis zur flachen Bildoberfläche zu thematisieren. Die US-amerikanische Theoretikerin Rosalind Krauss hat es 1978 folgendermaßen ausgedrückt:

„Anders als die Perspektive bildet das Raster nicht die Räumlichkeit eines Raumes oder einer Landschaft oder einer Gruppe von Figuren auf der Oberfläche eines Gemäldes ab. Wenn es überhaupt etwas abbildet, dann die Oberfläche des Gemäldes selbst.“

In dieser Tradition stehend nutzt Anja Mamero in einigen Arbeiten dieser Ausstellung das Raster ebenfalls als eigenständigen Bildgegenstand. Alle drei Bilder, in den das Raster mit Öl auf Leinwand aufgetragen wurde, verbindet, dass das Raster nicht identisch mit dem Bildraum ist. Es scheint die Grenzen des jeweiligen Bildes zu negieren oder zu sprengen. Die jeweiligen Bildränder werden dadurch in den Vordergrund der Betrachtung gezogen und der Entstehungsprozess des Rasters wird für die Betrachtenden im Nachhinein nachvollziehbar. Ähnlich wie jede Linie ihre individuelle Ausprägung hat, nimmt das jeweilige Raster den Versuch der optischen Tiefentäuschung auf, ohne zu negieren, dass es sich bei allen Arbeiten um gemalte Bildoberflächen handelt. Ein ständiges Changieren zwischen Bildoberfläche und durchscheinendem Bildhintergrund.

Das Element des Durchscheines oder auch des Wechselspiels von Bildvorder- und Bildhintergrund ist elementarer Bestandteil einer weiteren Gruppe:

„behind the curtain“. Jeder Vorhang ist dafür gemacht, etwas zu Verhüllen oder zu Verdecken. Gleichzeitig verweist er in seiner originären Funktion auf etwas was dahinter ist, dass etwas verborgen ist. Häufig scheint dieses Dahinter durch oder aber es erscheint lediglich in unserer individuellen und subjektiven Imagination.

Linien sind auch in diesen Gemälden mit Öl auf Leinwand gesetzt. Es sind farbige Spuren, die die Bildfläche dominieren, die Wahrnehmung bestimmen und erst auf den zweiten Blick erkennen lassen, dass es etwas hinter den Linien gibt – seien es figurative Darstellungen, die in Form der Zeichnung ephemer durchscheinen oder die grob und rau geführten Striche, die das Wort Wahrheit bilden. Ein mit groben Strichen gesetzter Ausruf, der sich mit den genau aufgetragenen Linien verbindet, auf der materiellen Bildoberfläche eine Symbiose eingeht. Linie oder Strich, was transportiert die Wahrheit?

In den jüngsten Arbeiten dieser Ausstellung überlagert Anja Mamero Gemälde mit filmischen Projektionen und ermöglicht uns so eine weitere Dimension theoretischer Reflexion über das Medium der Malerei. Sicherlich ist das Gemälde – insbesondere gemalt mit Öl auf Leinwand – die Bildgattung, die im klassischsten Sinne der Vorstellung eines Kunstwerkes entspricht. Wichtig ist hierbei der zugrundeliegende Unikatgedanke. „tracing lines“ und die dazugehörigen Skizzen mit dem Titel „schatten lines“ sind entstanden aus dem Wunsch, Lichtstrahlen und Schatten einzufangen. In den Gemälden selbst dienen die Farbigkeit, ihre Transparenz und Transluzenz als Mittel der Darstellung. In „tracing line one“ und „tracing line two“ werden diese überlagert von filmischen Projektionen, denen die gleichen Strukturen zugrunde liegen. Das gemalte und das gefilmte Bild werden hier übereinandergelegt. Die Bildoberfläche selbst scheint hierdurch in Bewegung zu geraten, und erweitert sich in den umgebenden Raum. Das Vexierspiel und Changieren der unterschiedlichen Bildebenen findet hier nicht mehr allein durch den direkten Auftrag der Ölfarbe durch die Künstlerin statt, sondern wird um einen mechanischen Aspekt der Bildproduktion und -wiedergabe erweitert. Eine weitere Dimension wird aufgenommen und die Linien scheinen – zum Leben erweckt – sich selbst zu verfolgen und einfangen zu wollen. Ein ständiger Abgleich des Unikats mit seiner scheinbaren Reproduktion im Film. Zwischen Ihren Blick als Betrachterin und das Gemälde selbst tritt der filmische Blick auf die zugrundeliegenden Strukturen. Und damit kommt man auch schon in eine medientheoretische Ebene, die sich damit beschäftigt, welche Darstellungsform genuiner, authentischer und realer erscheint: Das gemalte oder das filmische Bild?

Im Kern gleicht der Film ja der Fotografie. In seiner technischen Apparatur und dem Malen mit Lichtstrahlen. Das Wort „Fotografie“ hat seinen Ursprung im Altgriechischen und bedeutet wörtlich übersetzt: „schreiben, malen oder zeichnen mit Licht“. Betrachtet man das filmische Bild als das bewegte fotografische Bild, so kann es kein Zufall sein, dass Anja Mamero die gemalte Darstellung von Licht mit Bildern überlagert, die sich selbst mit Licht gezeichnet haben. Die Linien, der Raum zwischen den Linien, das Durchscheinen und changieren der Bildvorder- und Bildhintergründe werden hier zusammengeführt und in den technischen und theoretischen Bildraum erweitert. Die auf der Leinwand festgehaltenen und statischen Linien, beginnen zu leben und sich in den Realraum zu übertragen.

Soweit einige meiner Gedanken zu den hier präsentierten Arbeiten von Anja Mamero. Was umso schöner ist und die Vielschichtigkeit noch einmal erweitert ist die Tatsache, dass man diese Arbeiten auch jenseits kunsthistorischer und medientheoretischer Gedanken betrachten kann und mit dem eigenen, individuellen und subjektiven Blick einfach die Linien, Striche und Spuren verfolgen und genießen kann. Ein visuelles Vergnügen, das den Kern von Bildbetrachtungen ausmacht.

[Dr. Peter Kruska]